Meine Eltern und mein damals elf jähriger Bruder zogen zusammen, in eine kleine Stadt nach Schwaben. Dann kam ich. Zu der Zeit versuchten meine Eltern meine Schwester per Gerichtsbeschluss dazu zu bewegen, wieder zu ihnen zu ziehen. Vor Gericht stimmte meine Schwester dem Vorhaben zu, da sie hoffte, dass mein Vater seit meiner Geburt wieder so war wie vorher. Doch als sie einzog wurde sie eines besseren belehrt. Sie erzählte mir vor kurzem eine Geschichte, bei der sie damals merkte, dass sich nichts geändert hat und dass sich nichts mehr ändern wird. Meine Mutter hatte mich gerade gebadet und in ein Handtuch eingewickelt, zu der Zeit war ich erst ein paar Wochen alt. Sie legte mich auf das Sofa. Mein alkoholisierter Vater sah das und schrie meine Mutter an: „Wie kannst du das Kind so da hinlegen?!“. Meine Mutter erschrak und nahm mich sofort wieder auf den Arm. Mein Vater stand wütend auf und ging auf meine Mutter zu. Er schrie sie an und schlug ihr, vor den Augen meiner Geschwister, ins Gesicht. Durch die Wucht des Schlags kam sie ins taumeln und fiel Rückwärts in meinen Kinderwagen. Sie hätte den Schlag nicht abwehren können, da sie mich schützend im Arm hielt. Da wusste meine Schwester, dass sie wieder fort musste.

Als meine Schwester weg war, zogen wir in einen kleineren Ort. Hier setzen meine eigenen Erinnerungen ein. Ich kann nicht sagen, dass es schlecht war. Ich erinnere mich an Szenen, wie ich z.B. meine erste Freundin kennenlernte. Wie ich im Kindergarten am Frühstückstisch sitze und mir beim Schälen einer Mandarine Saft ins Auge spritze. Wie wir kochen. Wie mir mein Vater beibrachte Fahrrad zu fahren. Meine Kindheit war zu dieser Zeit schön. Meine Mutter sagt bis heute das es die schönste Zeit in ihrer Beziehung war. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass mein Vater in dieser Zeit je die Hand gegen mich erhoben hätte. Abgesehen von dem einen mal, als ich in meinem Zimmer, vor Wut (ich weiß nicht mehr was mich damals geritten hatte), alles kurz und klein schlug. Aber wem würde da nicht die Hand ausrutschen? Unsere Familie hatte sogar Freunde. Wenn mein Vater in den Nachbarort fuhr um in seine Lieblings Kneipe zu gehen, nahm er mich oft mit. Er setzte mich mit ein paar Münzen vor den Automaten und lies mich spielen. Wenn jemand rein kam, hörte ich immer das gleiche: „Das ist aber eine Süße!“ Oft wurde mir durch das Haar gewuschelt, was ich nicht so mochte, aber wenn ich lieb und leise war bekam ich oft noch ein paar Münzen zum Spielen.

Während es für mich eine schöne Zeit war, war es für meinen großen Bruder die Hölle. Er war nun der Prügelknabe für meinen Vater. Wenn mein Bruder ein paar Minuten zu spät nach Hause kam, gab es Schläge. Mein kleiner Bruder isst ein Packung Backpulver, der Große bekommt Schläge. Mein Vater war einfach nur schlecht gelaunt, mein Bruder durfte es ausbaden. Irgendwann reichte es meinem Bruder. Er wollte sich ein Beispiel an meiner Schwester nehmen und abhauen. Als mein Vater wieder einmal seine Aggressionen abbauen wollte. Sagte ihm mein Bruder, dass er dann abhauen würde. Mein Vater meinte daraufhin zu ihm, dass er ihm zeigen wolle, was es bedeutet auf der Straße leben zu müssen. Ab dem Moment musste mein Bruder, im November mit offenem Fenster, ohne Decke und nackt in seinem Bett schlafen. Mein Vater machte Kontrollbesuche und wenn er sah, dass er sich versuchte von der Kälte zu schützen, wurde er wieder Verprügelt. Nach zwei, drei Tagen hatte mein Vater sein Ziel erreicht. Mein Bruder kam bei ihm angekrochen und entschuldigte sich, er bettelte darum, wieder das Fenster schließen und mit Decke schlafe zu dürfen. Mein Vater sah ihn an und sagte: „Lass dir das eine Lehre sein. Wenn ich nochmal sowas höre, vonwegen ich haue ab, dann werde ich dich finden und dir den Penis abhacken!“. Später wurde es meinem Vater mit ihm zu blöd und er steckte ihn ins Heim. Das war der Beginn vom Ende für meinen Bruder. Er hatte ADHS und im Heim wurden seine Medikamente von einem Tag auf den anderen abgesetzt. Er kam an die falschen Leute, begann Drogen zu nehmen und wurde schließlich Kriminell. Das ist verständlich, er war Mittell- und Perspektivlos. Er hatte keine Bezugsperson mehr, an die er sich wenden konnte. Er war alleine. Auch heute hat er noch mit den Folgen zu kämpfen. Mittlerweile ist er in einem Methadon-Programm. Ich hoffe für ihn und seinen Sohn, dass er den Absprung irgendwann schafft.